Vierundsiebzig
![Buchseite und Rezensionen zu 'Vierundsiebzig' von Ronya Othmann](https://m.media-amazon.com/images/I/41N130iwuJL._SL500_.jpg)
„Die Sprachlosigkeit liegt noch unter der Sprache, selbst wenn ein Text da ist. Die Sprachlosigkeit ist das Unbeschreibliche, und sie ist selbst Teil des Textes.“ (Zitat Pos. 93)
Inhalt
Die Schriftstellerin und Journalistin Ronya Othmann ist in Deutschland aufgewachsen, als Tochter eines êzîdischen Vaters und einer deutschen Mutter. Im August 2014 ist sie einundzwanzig Jahre alt, als sie vor dem Fernsehgerät sitzt und versucht, in Gedanken und Worte zu fassen, was an diesem 3. August 2014 in Shingal geschehen ist, der vierundsiebzigste Ferman, ein Massaker durch IS-Kämpfer an den andersgläubigen Jesiden. Menschen, die fliehen konnten, kommen in den Bergen von Shingal um, die Männer, die im Vertrauen auf ihre arabischen Nachbarn geblieben sind, werden getötet, junge Frauen und Kinder werden auf Sklavenmärkten verkauft. Nach und nach ergibt sich das Bild dieser Ereignisse und der Verbrechen während der Besatzungszeit durch den IS aus den vielen Gesprächen, die sie führt, Camps, die sie besucht, in denen auch Familien leben, die vor dem IS aus Shingal geflohen sind, Fragen, die sie stellt und die doch keine Fragen sind, als sie 2018 in den Irak fliegt und ihre Familie in Silêmanî in der Region Kurdistan besucht. Am ersten Oktober 2022 fliegt sie mit ihrem Vater wieder nach Erbil und gelangt auf abenteuerlichen Wegen von Bagdad über Mossul nach Shingal und damit findet dieser Roman ein formales Ende, auch wenn die Geschichte nicht abgeschlossen werden kann.
Thema und Genre
In dieser literarischen Form eines dokumentarischen Romans zwischen Fakten, Autobiografie, Erinnerungen und tagebuchartigen Aufzeichnungen geht es um den Genozid an den Jesiden, den Versuch, die Ereignisse in einen Text zu fassen, das unvorstellbare Leid, welches der IS über die Menschen in dieser Region gebracht hat und das sich für die Autorin nicht in Worte fassen lässt, aber auch um die karge Schönheit des Landes, um die gelebte Gastfreundschaft und darüber, was Familie bedeutet.
Erzählform und Sprache
Die Texte sind Fragmente, Ronya Othmann schreibt, fügt Worte zu Sätzen zusammen, die Gedanken und Eindrücke kommen und gehen. Wiederholt nähert sie sich und ihre Texte dem Jahr 2014 an, recherchiert in der Bibliothek, liest die Berichte, liest und hört ihre Aufzeichnungen, ergänzt mit ihren persönlichen Erinnerungen, nicht immer chronologisch, aber durch Jahreszahlen und Datumsangaben zuordenbar. Immer wieder die Frage an sich selbst als Schriftstellerin, wie sie über all das Unfassbare schreiben soll, das passiert ist. Sie bezweifelt das erzählerische „Ich“, da sie dies nicht persönlich erlebt hat, die Alltäglichkeiten, die sie beschreibt, eingebunden in die Texte über die Verbrechen an den Êzîden, über die sie aber schreiben muss, damit sie nicht vergessen werden. „Ich denke, dass eine Geschichte immer aus zweierlei besteht: dem, was erzählt wird, und dem, was unerzählt bleibt. Die verborgenen und aufklaffenden Lücken, nicht unter dem Text, sondern darin.“ (Zitat Pos. 5965)
Fazit
Vielfältig, literarisch ungewöhnlich, eine tief beeindruckende Leseerfahrung.
Niemals vergessen!
Kurzmeinung: Reicht niemals vergessen aus – nein, aber es ist ein Anfang.
Als mittelbar Betroffene nimmt sich Ronya Othmann einer Thematik an, die viel zu wenig Aufmerksamkeit in der deutschen Öffentlichkeit gefunden hat, dem Genozid an den Jesiden. Es ist eine kleine Volksgruppe, die nicht viele Fürsprecher hat/te. Viel zu spät, am 19.1.2023 erkannte der Deutsche Bundestag den Genozid an den Jesiden als solchen an. Endlich wurden diese Verbrechen als solche benannt und als Völkermord gebrandmarkt.
Ein Roman ist dieses Buch nicht, es ist eine erzählende Dokumentation und sie geht unter die Haut. Wie kann es sein, fragt man sich, dass religiöse Fanatiker, nämlich der IS, rücksichtslos alle, die ihren Glauben nicht teilen, regelrecht abschlachten und dies fast unwidersprochen und unbemerkt von der Weltöffentlichkeit? Es zeigt sich wieder einmal, je mehr die Unmenschlichkeit um sich greifen kann, je weniger Allgemeinbildung vorhanden ist und je hasserfüllter Menschen Feindbilder aufbauen. Viele genießen auch einfach nur die Macht, die ihnen von einer Ideologie gegeben wird. Hass wird in ihren Handlungen manifest. Hass, der aus dem Nichts kommt und unbegreiflich ist. Und unmenschlich.
Ronya Othmann bereiste die Türkei, Armenien, Teile Syriens und des Irak. Ihre Reisen waren nicht gefahrlos. Sie führte viele Gespräche und war teilweise in Begleitung ihres Vaters, der perfekt arabisch spricht, sich aber weigert, die Sprache der Unterdücker zu benutzen. Als Sprache der Unterdrückung hat er es jedenfalls erfahren und erlebt, lange Zeit saß er in türkischen Gefängnissen.
Fazit: Ein zutiefst berührender dokumentarischer Roman, der einem den Glauben an die Menschheit rauben kann.
Kategorie: Dokumentation.
Rowohlt, 2024
Auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises, 2024